Samstag, 17. Mai 2014

Kääääääährwoch...

Es gibt fundamentale Einsichten, die bleiben dem Großstädter leider komplett verschlossen. Also zumindest denen außerhalb Baden-Württembergs. Für die wirklich tiefgreifenden Erkenntnisse des Menschen und seiner Psychologie muss man einfach in die Provinz, weil es nur dort die notwendigen Rahmenbedingungen gibt. Soziale Kontrolle zum Beispiel, die allein dadurch entsteht, dass man sich kennt und sich obendrein noch ständig begegnet. Schon das wäre in Städten wie Hamburg oder Berlin vollkommen undenkbar. Hier dagegen ist das normal. Man achtet eben aufeinander und nimmt regen Anteil am Leben der Anderen, kümmert sich. Das schließt Rücksichtnahme auf die Empfindungen seiner Mitmenschen natürlich ein. Zum Beispiel, indem man seine FREIZEIT dafür opfert, um das Trottoir fein sauber zu halten. Verstehe ich im Herbst, wenn hinterfotziges, nasses Laub die Gebrechlichen niedermäht oder Schnee und Eis dasselbe mit allen anderen tut. Verstehe ich nicht zu allen anderen Zeiten. Seien wir doch mal ganz ehrlich und pragmatisch: Was kümmert mich der Gehweg vor meinem Haus? Den sehe ich etwa zweimal am Tag und nehme ihn dann noch nicht mal richtig wahr. Außerdem machen die Hunde da Pippi. "Das sieht aber doch viel einladender aus, wenn es schon draußen so schön sauber ist - wie eine Art Visitenkarte", könnte man einwenden. Wäre das bei uns so, würden Besucher, die sich darauf verlassen haben, spätestens im Entree ihr blaues Wunder erleben und schleunigst die Flucht ergreifen. Gehweg fegen - soweit kommt's noch! Da kann ich ja gleich den Keller wischen und die Lichtschächte putzen. Die Schwaben haben da einen Begriff für, der mich Zeit meines Lebens gleichzeitig in ungläubiges Staunen versetzt und massive Fluchtreflexe ausgelöst hat - ihr wisst schon, welchen ich meine, oder? Klar - die Käährwoch. Kehrwoche. Eine Tradition, die selbst ignorante Zugezogene turnusmäßig dazu zwingt, sich in Jogginghose und Latschen zu schmeißen, um in großem Stil außer Haus den Besen zu schwingen. Wer kneift, bekommt Besuch. Und zwar einen, der die Regeln kennt und sie dem Unwissenden gerne in aller Eindringlichkeit nochmals persönlich erklärt. Diese in breiten Teilen der Bevölkerung akzeptierte Ordnungsgängelung war für mich immer ein maßgeblicher Grund, niemals einen Fuß in diese Region zu setzen. Zumindest nicht als Bewohner. "Das ist jetzt aber kleinlich, total ignorant - was spricht denn dagegen, sich mal fremden Kulturen und Gebräuchen zu öffnen?" "Nichts. Es spricht aber auch nichts dafür. Also nicht in diesem Fall und nicht für mich." Um es kurz zu machen: Die Rituale der Kehrwoche waren mir immer ein großes Mysterium. Was, um alles in der Welt, treibt Leute dazu, sich zum Zeitvertreib gegenseitig mit dem Besen um den Block zu jagen, denselben zu säubern und Pflanzen aus den Ritzen der Gehwegplatten zu popeln, die allein schon für das ambitionierte Vorhaben, die exakten Formsteine zu durchdringen, einen Orden verdient hätten. Wäre in Berlin vollkommen undenkbar. Wer sich in Kreuzberg auf dem Trottoir anschickt, die Pflanzen aus den Fugen zu zerren, bekommt wahrscheinlich sofort Ärger mit dem Gartenamt oder wird von irgendwelchen Frutariern gebläut, die Gewalt gegen Pflanzen verteufeln. Fegen ist da wegen der Hundehaufen sowieso undenkbar, es sei denn, man will dem Bürgersteig mal einen neuen Anstrich verpassen. Heute hat sich mein Blick auf die Dinge geändert. Weil ich sie verstanden habe. Ich bin sozusagen in sie eingetaucht und habe sie bis ins Letzte durchdrungen. Ich habe nämlich heute selbst unser Trottoir gefegt, die Pflanzen entfernt und alles schön sauber gemacht. Aber WARUM??? Ganz einfach: Weil die Nachbarn die Straße hoch das auch gemacht haben. Heute Vormittag. Bis gestern sah es überall gleich aus: ein bisschen zerbröseltes Laub auf etwa 1,5 Metern Breite, das sich gerne an den Füßen gigantischer Löwenzahnpflanzen sammelt und dort in Verbindung mit ein bisschen Hundepippi vor sich hin gammelt. Dann haben die Straßeaufwärts'ns das Zeug penibel weg geputzt. Ergebnis: Bei uns sah es scheiße aus. Naja. Und bei den Nachbarn Straße abwärts. Da hat es mich gepackt: Nachdem wir schon den ganzen Herbst, Winter und das halbe Frühjahr die rote Müll-Laterne hatten, wollte ich sie jetzt an unsere Nachbarn weiterreichen. Und habe es schön gemacht. Das ist der ganze Trick: Ein Streber fängt an und alle anderen ziehen nach, um nicht als Saubande dazustehen. Und die, die es diesmal nicht geschnallt haben, sind nächstes Mal die Ersten. Ganz sicher. Außerdem hat das Fegen etwas Meditatives, man kommt so in den Flow. Und denkt nach. Und erkennt Dinge, die anderen verborgen bleiben. Fragt mal Beppo den Straßenfeger.

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