Sehr geehrter Herr Abgeordneter,
ich habe den heutigen Kabinettsbeschluss zur
Vorratsdatenspeicherung mit Schrecken zur Kenntnis genommen. Die Eile, mit der
er gefasst wurde ist für mich ein klares Zeichen, dass eine öffentliche Debatte
darüber gar nicht erst geführt werden soll. Die Gelegenheit könnte kaum
günstiger sein, denn die Republik redet sich gerade über die Gleichberechtigung
unterschiedlicher Lebensentwürfe die Köpfe heiß: Niemand soll diskriminiert
werden. Vor diesem lärmenden Hintergrund kann ironischerweise heimlich, still
und leise ein Instrument implementiert werden, das grundlegender
Diskriminierung Tür und Tor öffnet und meinem Verständnis von Demokratie
vollkommen zuwiderläuft.
Ich bitte Sie eindringlich, bei der parlamentarischen
Abstimmung gegen den Gesetzesentwurf zur Vorratsdatenspeicherung zu stimmen,
denn durch die anlasslose Massenüberwachung werden Grundrechte willkürlich und
massiv eingeschränkt. Befürworter der Vorratsdatenspeicherung sind bisher jeden
stichhaltigen Beweis schuldig geblieben, dass die Sammlung der
Metakommunikationsdaten einen klaren Gewinn in der Verbrechensbekämpfung mit
sich bringt. Ohne einen erwähnenswerten Vorteil zu liefern, bedeutet sie vielmehr
einen fundamentalen Eingriff in die durch die Verfassung verbrieften und die
Rechtsprechung bestätigten Grundrechte. Das Volkszählungsurteil von Dezember
1983 subsummiert unter Artikel 2 des Grundgesetzes das Recht auf informationelle
Selbstbestimmung:
BVerfGE
65, 1: Einzelangaben
über persönliche und sachliche Verhältnisse, die für eine Bundesstatistik
gemacht werden, sind, soweit durch Rechtsvorschrift nichts anderes bestimmt
ist, von den Amtsträgern und für den öffentlichen Dienst besonders Verpflichteten,
die mit der Durchführung von Bundesstatistiken betraut sind, geheimzuhalten, es sei denn,
daß der Betroffene im Einzelfall in die Übermittlung oder Veröffentlichung der
von ihm gemachten Einzelangaben ausdrücklich einwilligt.
Weder das eine -
die Geheimhaltung persönlicher Verhältnisse, zu der ich das private
Kommunikationsverhalten rechne -
noch das andere - die
Information des Betroffenen über den Zugriff auf seine Daten - sind bei der
Vorratsdatenspeicherung gegeben. Noch in einem Gastbeitrag in der Zeit am 28.
Januar 2015 forderte Bundesminister für Justiz und Verbraucherschutz Heiko Maas
vollmundig:
Das neue EU-Datenschutzrecht muss vor
allem dreierlei leisten: Wir müssen Privatheit schützen und die
Selbstbestimmung stärken, das neue Recht muss tatsächlich für alle in Europa
gelten und es muss in der gesamten EU auch einheitlich durchgesetzt werden.
Souverän ist, wer über die Nutzung seiner Daten selbst entscheidet. In der Realität ist es mit dieser Datensouveränität oft nicht weit her.
Souverän ist, wer über die Nutzung seiner Daten selbst entscheidet. In der Realität ist es mit dieser Datensouveränität oft nicht weit her.
Offensichtlich meinte er damit ausschließlich den Bereich, in
dem privatwirtschaftliche Unternehmen wie Google, Facebook & Co Daten
abgreifen und misst, denn hinsichtlich der erforderlichen Befugnisse von
Behörden offenbar mit zweierlei Maß. Anders kann ich mir seine 180-Grad-Wende
in seinen heutigen Statements nicht erklären.
Tatsächlich entsetzt und frustriert mich diese Kehrtwende
über alle Maßen. Wie kann ich Politikern auch nur ansatzweise vertrauen, die
kein halbes Jahr zu ihren Aussagen stehen und unabhängig von schwerwiegenden
Gründen existenzielle Grundrechte ihrer Bürger preisgeben? Auf welcher
Grundlage soll ich künftige Wahlentscheidungen treffen? Ich bin über diesen
Vorgang vollkommen fassungslos.
Das Mantra, dass ja nur Metadaten und keine
Kommunikationsinhalte gespeichert werden, ist Augenwischerei und baut auf die
Unwissenheit großer Teile der Bevölkerung, welche Aussagekraft nur wenige
Metadaten über die intimsten Lebensgewohnheiten der ausgespähten Menschen haben.
Viele Menschen in meinem Umfeld reagieren auf die Ausspähung
entweder resigniert oder unwissend: „Ich habe ja nichts zu verbergen“ wiegeln
sie ab und merken gar nicht, dass die anlasslose und massenhafte Speicherung persönlicher Daten, zu denen selbstverständlich
auch Metadaten gehören, einen fundamentalen Einschnitt in die
Persönlichkeitsrechte darstellt und die Handlungs- sowie die Meinungsfreiheit
fundamental bedroht.
Tatsächlich ist vielen Menschen diffus bewusst, dass sie
„irgendwie überwacht“ werden. Überwachung ist aber mit der Menschenwürde nicht
vereinbar und untergräbt die Meinungsfreiheit: Zahlreiche psychologische
Studien zeigen, dass Menschen unter Beobachtung die Meinung der Mehrheit
vertreten. Sie tun dies auch dann, wenn diese Meinung offensichtlich falsch ist
oder ihrer eigenen Überzeugung zuwiderläuft. Das gilt sogar schon für Kinder.
Wer sich überwacht fühlt, wird sich mit seinen Meinungsäußerungen im
öffentlichen und möglicherweise auch im privaten Umfeld stark zurück halten,
lieber nicht bei google nach potenziell brisanten Themen wie
Alkoholabhängigkeit, Errektionsstörungen oder Promillegrenze recherchieren und
sich insgesamt bemühen, unauffällig zu leben. Ich wage zu behaupten, dass diese
Selbstzensur alle Lebensbereiche durchdringen wird und am Ende auch die Wahl
von Freunden und Bekannten beeinflusst. Wer möchte schon die Telefonnummer
eines potenziellen Verbrechers/Kinderschänders/Terroristen in seinem
Handyspeicher haben, der einen selbst plötzlich ins Zwielicht stellt?
Ich persönlich möchte jedenfalls nicht in einer Gesellschaft
leben, bei der ich - wenn auch unbewusst - jeden neuen Kontakt auf seine
potenzielle Verstrickung in ungesetzliche Machenschaften prüfen oder den Beweis
antreten muss ein „sauberer“ Kontakt zu sein.
Gegenseitiges
Vertrauen ist der Kitt, der eine freie Gesellschaft zusammen hält
Auch wenn die wenigsten Menschen tatsächlich straffällig
werden, hat doch jeder etwas zu verbergen. Das mögen schlüpfrige Details im
Beziehungsleben oder schwerwiegende persönliche Schwierigkeiten sein. Kommen
sie ans Licht, ist der Schaden groß. Deshalb sind gespeicherte Metadaten eine
Fußfessel der Handlungsfreiheit, denn sie schränken uns massiv ein. Wer weiß,
dass er überwacht wird, verzichtet mit Blick auf eine „saubere Akte“
wahrscheinlich eher auf den Anruf bei einer zwielichtigen Hotline oder bei der
Telefonseelsorge, bei einer Schuldnerberatung oder einem Psychotherapeuten. Es
ist ein unverzichtbarer Teil der Menschenwürde, sich selbstbestimmt und frei
über Hilfen, Angebote persönlicher Neigung etc. informieren oder diese in
Anspruch nehmen zu können, ohne befürchten zu müssen, dabei ausgespäht zu
werden. Es sind sensibelste Bereiche, die unter allen Umständen vor fremden
Blicken - ob von privatwirtschaftlicher oder staatlicher Seite - zu jedem
Zeitpunkt geschützt werden müssen.
Alle Bürger einer freien Gesellschaft müssen davon ausgehen
können, dass sie alleine die Kontrolle darüber haben, wann sie wem die Wahrheit
sagen - nicht nur die „professionellen Geheimnisträger“. Anderenfalls sind alle
Menschen korrumpierbar. Nur wer sicher weiß, dass seine Geheimnisse prinzipiell
sicher sind, kann ein selbstbestimmtes souveränes Leben führen. Wer sich
dagegen überwacht fühlt, berücksichtigt diese Möglichkeit bei allem, was er
sagt, schreibt, unternimmt oder eben lieber unterlässt. Wer sich überwacht
fühlt, errichtet sogar im privaten Bereich eine Fassade, und verliert das
Vertrauen in sein unmittelbares Umfeld.
Die Vorratsdatenspeicherung führt de facto eine
Massenüberwachung ein. Der Staat rechtfertigt dies, indem er seine Bürger unter
Generalverdacht stellt und schafft so in demselben Atemzug die
Unschuldsvermutung ab - einem der höchsten Güter jedes Rechtsstaates. Wenn von
allen alle Metadaten vorliegen, ist es nur eine Frage der Suchkriterien (Wer
definiert eigentlich wann jemand etwas „zu verbergen“ hat und mit welchen
Konsequenzen?) und Rechnerkapazitäten, bis jeder ein legitimes Ziel der
Ausspähung abgibt. Ich möchte meine Kinder nicht in einer Gesellschaft
großziehen, in der es normal ist, seine Privatsphäre für eine diffuse
„Sicherheit“ aufzugeben ohne, dass es hierzulande in den vergangenen
Jahrzehnten jemals eine flächendeckendeBedrohung für Leib und Leben durch
Terroristen gegeben hätte, die vom allgemeinen Lebensrisiko verschieden wäre.
Wenn der Staat nun tatsächlich die „Sicherheit“ seiner
Bürger im Blick hat, sollte er sich besser an der amtlichen Sterbestatistik
orientieren, um wirklich sinnvolle Maßnahmen zu ergreifen. Das Statistische
Bundesamt belegt in seiner Tabelle der Todesursachen, dass im Jahr 2013 in
Deutschland 1.389 Menschen an Komplikationen chirurgischer Eingriffe oder
Folgen anderer medizinischer Behandlungen gestorben sind, Tendenz steigend.
Terroropfer werden dagegen zu keinem Zeitpunkt als gesonderte Kategorie
erfasst. Ich wage zu behaupten, dass ihre Zahl im betrachteten Zeitraum sowie
in den vergangenen Jahren insgesamt in Deutschland gleich null war, wenn man
die Opfer der NSU ausklammert. Wenn jetzt aber das Risiko, an einer ärztlichen
Behandlung zu sterben so viel höher ist, als bei einem Terroranschlag, ist es
sinnlos, sämtliche Bürger im Dienste ihrer eigenen Sicherheit unter Beobachtung
zu stellen. Besser sollte man sie davon abhalten, Ärzte aufzusuchen, da
ebendiese faktisch eine viel größere Gefahr darstellen als potenzielle
Terroristen.
Mein Punkt ist: Die Vorteile der „Sicherheit“ liegen nicht
auf Seite der Bürger. Denn die Gefahr des Einzelnen, Opfer eines Irrtums - wie
durch falsche oder zu grobe Algorithmen - zu werden, ist erheblich höher, als
durch die Massenüberwachung vor einem Schaden durch Terroristen oder
gewöhnliche Verbrecher geschützt zu werden. Schon ohne überall digitale
Fingerabdrücke zu hinterlassen (und nichts weniger sind Metadaten), können wir
alle jederzeit ohne unser Zutun in das Fadenkreuz von Ermittlungsbehörden
geraten. Die möglichen Irrtümer bleiben aber wenigstens auf einem niedrigen
Level, wenn die Menschen nicht aufgrund von willkürlichen Rastern in Schubladen
gesteckt werden, sondern Vorwürfe oder Verdachtsmomente gegen sie individuell
und mit Sorgfalt geprüft werden. Darüber hinaus muss es den Menschen möglich
sein, nachteilige Entscheidungen und Repressalien überprüfen zu lassen oder sich
zur Wehr zu setzen. Im Rahmen der Vorratsdatenspeicherung ist dies schwer
realisierbar. Die Befürchtung der Menschen, dass sie aufgrund ihres privaten
Verhaltens oder aufgrund ihrer Kontakte in einer „verdächtigen Schublade“
landen und dadurch Nachteile erfahren könnten, führt dazu, dass Menschen sich
auch im privaten Bereich verstellen. Dass sie darüber nachdenken, ob das, was
sie sagen oder kaufen oder mit wem sie sich anfreunden, sie verdächtig machen
könnte.
Ich schreibe Ihnen das, weil die scheinbar eilige
Durchsetzung der Vorratsdatenspeicherung vor dem Hintergrund der niemals
endenden Enthüllungen über gierige Geheimdienste, unwahrhaftige Aussagen von
Politikern und Internetfirmen, die sich einfach über geltendes Recht hinweg
setzen, weil sie niemand daran hindert, mein Vertrauen in die Demokratie massiv
erschüttert hat. Ich kann einer Politik nicht mehr vertrauen, die entweder
nicht im Stande oder nicht willens ist, wahrhaftig im Sinne ihrer Bürger zu
agieren. Ich kann Politikern nicht vertrauen, die unfähig sind, ihre
Entscheidungen mit vernünftigen Argumenten zu begründen und offen zu
kommunizieren. Ich bin enttäuscht, dass wir im 21. Jahrhundert offenbar nichts
aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt haben und Freiheit als wichtigstes
Gut unserer Gesellschaft so leichtfertig preisgeben.
Demokratie braucht Meinungsfreiheit, eine scharfe Trennung
von öffentlicher und Privater Sphäre sowie eine Politik, die ihre Bürger nicht
für dumm verkauft. Alles das geht mit der Vorratsdatenspeicherung zum Teufel.
Sehr geehrter Herr Steinbrück, ich bitte Sie inständig, bei
der Abstimmung im Parlament gegen die Vorratsdatenspeicherung zu stimmen.
Ich sehe in dem genannten Gesetzesentwurf einen Dammbruch,
der, wenn er erst einmal umgesetzt ist und alle Rechtsmittel ausgeschöpft sind,
unseren Rechtsstaat und die freiheitliche Gesellschaft, in der ich sozialisiert
wurde unumkehrbar verändern wird. Ich bin überzeugt, dass wir gegenwärtig an
einem historischen Wendepunkt stehen, an dem unsere Entscheidungen im Bezug auf
die digitale Durchdringung des Alltags sehr weitreichende Folgen haben.
Ich wende mich mit diesem Appell an Sie als Mitglied der
SPD-Fraktion, in der Hoffnung, Gehör zu finden. Ich tue dies in dem
Bewusstsein, dass Ihre Partei sich in der Geschichte Deutschlands mindestens
einmal als Einzige Fraktion im Parlament gegen eine unumkehrbare Abkehr von der
Freiheit gestellt hat.
Mit freundlichen Grüßen