Mittwoch, 27. Mai 2015

Offener Brief an Peer Steinbrück anlässlich des Kabinettsbeschlusses zur Vorratsdatenspeicherung



Sehr geehrter Herr Abgeordneter,

ich habe den heutigen Kabinettsbeschluss zur Vorratsdatenspeicherung mit Schrecken zur Kenntnis genommen. Die Eile, mit der er gefasst wurde ist für mich ein klares Zeichen, dass eine öffentliche Debatte darüber gar nicht erst geführt werden soll. Die Gelegenheit könnte kaum günstiger sein, denn die Republik redet sich gerade über die Gleichberechtigung unterschiedlicher Lebensentwürfe die Köpfe heiß: Niemand soll diskriminiert werden. Vor diesem lärmenden Hintergrund kann ironischerweise heimlich, still und leise ein Instrument implementiert werden, das grundlegender Diskriminierung Tür und Tor öffnet und meinem Verständnis von Demokratie vollkommen zuwiderläuft.
Ich bitte Sie eindringlich, bei der parlamentarischen Abstimmung gegen den Gesetzesentwurf zur Vorratsdatenspeicherung zu stimmen, denn durch die anlasslose Massenüberwachung werden Grundrechte willkürlich und massiv eingeschränkt. Befürworter der Vorratsdatenspeicherung sind bisher jeden stichhaltigen Beweis schuldig geblieben, dass die Sammlung der Metakommunikationsdaten einen klaren Gewinn in der Verbrechensbekämpfung mit sich bringt. Ohne einen erwähnenswerten Vorteil zu liefern, bedeutet sie vielmehr einen fundamentalen Eingriff in die durch die Verfassung verbrieften und die Rechtsprechung bestätigten Grundrechte. Das Volkszählungsurteil von Dezember 1983 subsummiert unter Artikel 2 des Grundgesetzes das Recht auf informationelle Selbstbestimmung: 

BVerfGE 65, 1: Einzelangaben über persönliche und sachliche Verhältnisse, die für eine Bundesstatistik gemacht werden, sind, soweit durch Rechtsvorschrift nichts anderes bestimmt ist, von den Amtsträgern und für den öffentlichen Dienst besonders Verpflichteten, die mit der Durchführung von Bundesstatistiken betraut sind, geheimzuhalten, es sei denn, daß der Betroffene im Einzelfall in die Übermittlung oder Veröffentlichung der von ihm gemachten Einzelangaben ausdrücklich einwilligt.

Weder das eine - die Geheimhaltung persönlicher Verhältnisse, zu der ich das private Kommunikationsverhalten rechne - noch das andere - die Information des Betroffenen über den Zugriff auf seine Daten - sind bei der Vorratsdatenspeicherung gegeben. Noch in einem Gastbeitrag in der Zeit am 28. Januar 2015 forderte Bundesminister für Justiz und Verbraucherschutz Heiko Maas vollmundig:

Das neue EU-Datenschutzrecht muss vor allem dreierlei leisten: Wir müssen Privatheit schützen und die Selbstbestimmung stärken, das neue Recht muss tatsächlich für alle in Europa gelten und es muss in der gesamten EU auch einheitlich durchgesetzt werden.
Souverän ist, wer über die Nutzung seiner Daten selbst entscheidet. In der Realität ist es mit dieser Datensouveränität oft nicht weit her.

Offensichtlich meinte er damit ausschließlich den Bereich, in dem privatwirtschaftliche Unternehmen wie Google, Facebook & Co Daten abgreifen und misst, denn hinsichtlich der erforderlichen Befugnisse von Behörden offenbar mit zweierlei Maß. Anders kann ich mir seine 180-Grad-Wende in seinen heutigen Statements nicht erklären.

Tatsächlich entsetzt und frustriert mich diese Kehrtwende über alle Maßen. Wie kann ich Politikern auch nur ansatzweise vertrauen, die kein halbes Jahr zu ihren Aussagen stehen und unabhängig von schwerwiegenden Gründen existenzielle Grundrechte ihrer Bürger preisgeben? Auf welcher Grundlage soll ich künftige Wahlentscheidungen treffen? Ich bin über diesen Vorgang vollkommen fassungslos.

Das Mantra, dass ja nur Metadaten und keine Kommunikationsinhalte gespeichert werden, ist Augenwischerei und baut auf die Unwissenheit großer Teile der Bevölkerung, welche Aussagekraft nur wenige Metadaten über die intimsten Lebensgewohnheiten der ausgespähten Menschen haben.
Viele Menschen in meinem Umfeld reagieren auf die Ausspähung entweder resigniert oder unwissend: „Ich habe ja nichts zu verbergen“ wiegeln sie ab und merken gar nicht, dass die anlasslose und massenhafte Speicherung persönlicher Daten, zu denen selbstverständlich auch Metadaten gehören, einen fundamentalen Einschnitt in die Persönlichkeitsrechte darstellt und die Handlungs- sowie die Meinungsfreiheit fundamental bedroht.

Tatsächlich ist vielen Menschen diffus bewusst, dass sie „irgendwie überwacht“ werden. Überwachung ist aber mit der Menschenwürde nicht vereinbar und untergräbt die Meinungsfreiheit: Zahlreiche psychologische Studien zeigen, dass Menschen unter Beobachtung die Meinung der Mehrheit vertreten. Sie tun dies auch dann, wenn diese Meinung offensichtlich falsch ist oder ihrer eigenen Überzeugung zuwiderläuft. Das gilt sogar schon für Kinder. Wer sich überwacht fühlt, wird sich mit seinen Meinungsäußerungen im öffentlichen und möglicherweise auch im privaten Umfeld stark zurück halten, lieber nicht bei google nach potenziell brisanten Themen wie Alkoholabhängigkeit, Errektionsstörungen oder Promillegrenze recherchieren und sich insgesamt bemühen, unauffällig zu leben. Ich wage zu behaupten, dass diese Selbstzensur alle Lebensbereiche durchdringen wird und am Ende auch die Wahl von Freunden und Bekannten beeinflusst. Wer möchte schon die Telefonnummer eines potenziellen Verbrechers/Kinderschänders/Terroristen in seinem Handyspeicher haben, der einen selbst plötzlich ins Zwielicht stellt? 

Ich persönlich möchte jedenfalls nicht in einer Gesellschaft leben, bei der ich - wenn auch unbewusst - jeden neuen Kontakt auf seine potenzielle Verstrickung in ungesetzliche Machenschaften prüfen oder den Beweis antreten muss ein „sauberer“ Kontakt zu sein.

Gegenseitiges Vertrauen ist der Kitt, der eine freie Gesellschaft zusammen hält

Auch wenn die wenigsten Menschen tatsächlich straffällig werden, hat doch jeder etwas zu verbergen. Das mögen schlüpfrige Details im Beziehungsleben oder schwerwiegende persönliche Schwierigkeiten sein. Kommen sie ans Licht, ist der Schaden groß. Deshalb sind gespeicherte Metadaten eine Fußfessel der Handlungsfreiheit, denn sie schränken uns massiv ein. Wer weiß, dass er überwacht wird, verzichtet mit Blick auf eine „saubere Akte“ wahrscheinlich eher auf den Anruf bei einer zwielichtigen Hotline oder bei der Telefonseelsorge, bei einer Schuldnerberatung oder einem Psychotherapeuten. Es ist ein unverzichtbarer Teil der Menschenwürde, sich selbstbestimmt und frei über Hilfen, Angebote persönlicher Neigung etc. informieren oder diese in Anspruch nehmen zu können, ohne befürchten zu müssen, dabei ausgespäht zu werden. Es sind sensibelste Bereiche, die unter allen Umständen vor fremden Blicken - ob von privatwirtschaftlicher oder staatlicher Seite - zu jedem Zeitpunkt geschützt werden müssen. 

Alle Bürger einer freien Gesellschaft müssen davon ausgehen können, dass sie alleine die Kontrolle darüber haben, wann sie wem die Wahrheit sagen - nicht nur die „professionellen Geheimnisträger“. Anderenfalls sind alle Menschen korrumpierbar. Nur wer sicher weiß, dass seine Geheimnisse prinzipiell sicher sind, kann ein selbstbestimmtes souveränes Leben führen. Wer sich dagegen überwacht fühlt, berücksichtigt diese Möglichkeit bei allem, was er sagt, schreibt, unternimmt oder eben lieber unterlässt. Wer sich überwacht fühlt, errichtet sogar im privaten Bereich eine Fassade, und verliert das Vertrauen in sein unmittelbares Umfeld.

Die Vorratsdatenspeicherung führt de facto eine Massenüberwachung ein. Der Staat rechtfertigt dies, indem er seine Bürger unter Generalverdacht stellt und schafft so in demselben Atemzug die Unschuldsvermutung ab - einem der höchsten Güter jedes Rechtsstaates. Wenn von allen alle Metadaten vorliegen, ist es nur eine Frage der Suchkriterien (Wer definiert eigentlich wann jemand etwas „zu verbergen“ hat und mit welchen Konsequenzen?) und Rechnerkapazitäten, bis jeder ein legitimes Ziel der Ausspähung abgibt. Ich möchte meine Kinder nicht in einer Gesellschaft großziehen, in der es normal ist, seine Privatsphäre für eine diffuse „Sicherheit“ aufzugeben ohne, dass es hierzulande in den vergangenen Jahrzehnten jemals eine flächendeckendeBedrohung für Leib und Leben durch Terroristen gegeben hätte, die vom allgemeinen Lebensrisiko verschieden wäre. 

Wenn der Staat nun tatsächlich die „Sicherheit“ seiner Bürger im Blick hat, sollte er sich besser an der amtlichen Sterbestatistik orientieren, um wirklich sinnvolle Maßnahmen zu ergreifen. Das Statistische Bundesamt belegt in seiner Tabelle der Todesursachen, dass im Jahr 2013 in Deutschland 1.389 Menschen an Komplikationen chirurgischer Eingriffe oder Folgen anderer medizinischer Behandlungen gestorben sind, Tendenz steigend. Terroropfer werden dagegen zu keinem Zeitpunkt als gesonderte Kategorie erfasst. Ich wage zu behaupten, dass ihre Zahl im betrachteten Zeitraum sowie in den vergangenen Jahren insgesamt in Deutschland gleich null war, wenn man die Opfer der NSU ausklammert. Wenn jetzt aber das Risiko, an einer ärztlichen Behandlung zu sterben so viel höher ist, als bei einem Terroranschlag, ist es sinnlos, sämtliche Bürger im Dienste ihrer eigenen Sicherheit unter Beobachtung zu stellen. Besser sollte man sie davon abhalten, Ärzte aufzusuchen, da ebendiese faktisch eine viel größere Gefahr darstellen als potenzielle Terroristen.

Mein Punkt ist: Die Vorteile der „Sicherheit“ liegen nicht auf Seite der Bürger. Denn die Gefahr des Einzelnen, Opfer eines Irrtums - wie durch falsche oder zu grobe Algorithmen - zu werden, ist erheblich höher, als durch die Massenüberwachung vor einem Schaden durch Terroristen oder gewöhnliche Verbrecher geschützt zu werden. Schon ohne überall digitale Fingerabdrücke zu hinterlassen (und nichts weniger sind Metadaten), können wir alle jederzeit ohne unser Zutun in das Fadenkreuz von Ermittlungsbehörden geraten. Die möglichen Irrtümer bleiben aber wenigstens auf einem niedrigen Level, wenn die Menschen nicht aufgrund von willkürlichen Rastern in Schubladen gesteckt werden, sondern Vorwürfe oder Verdachtsmomente gegen sie individuell und mit Sorgfalt geprüft werden. Darüber hinaus muss es den Menschen möglich sein, nachteilige Entscheidungen und Repressalien überprüfen zu lassen oder sich zur Wehr zu setzen. Im Rahmen der Vorratsdatenspeicherung ist dies schwer realisierbar. Die Befürchtung der Menschen, dass sie aufgrund ihres privaten Verhaltens oder aufgrund ihrer Kontakte in einer „verdächtigen Schublade“ landen und dadurch Nachteile erfahren könnten, führt dazu, dass Menschen sich auch im privaten Bereich verstellen. Dass sie darüber nachdenken, ob das, was sie sagen oder kaufen oder mit wem sie sich anfreunden, sie verdächtig machen könnte.

Ich schreibe Ihnen das, weil die scheinbar eilige Durchsetzung der Vorratsdatenspeicherung vor dem Hintergrund der niemals endenden Enthüllungen über gierige Geheimdienste, unwahrhaftige Aussagen von Politikern und Internetfirmen, die sich einfach über geltendes Recht hinweg setzen, weil sie niemand daran hindert, mein Vertrauen in die Demokratie massiv erschüttert hat. Ich kann einer Politik nicht mehr vertrauen, die entweder nicht im Stande oder nicht willens ist, wahrhaftig im Sinne ihrer Bürger zu agieren. Ich kann Politikern nicht vertrauen, die unfähig sind, ihre Entscheidungen mit vernünftigen Argumenten zu begründen und offen zu kommunizieren. Ich bin enttäuscht, dass wir im 21. Jahrhundert offenbar nichts aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt haben und Freiheit als wichtigstes Gut unserer Gesellschaft so leichtfertig preisgeben. 

Demokratie braucht Meinungsfreiheit, eine scharfe Trennung von öffentlicher und Privater Sphäre sowie eine Politik, die ihre Bürger nicht für dumm verkauft. Alles das geht mit der Vorratsdatenspeicherung zum Teufel.

Sehr geehrter Herr Steinbrück, ich bitte Sie inständig, bei der Abstimmung im Parlament gegen die Vorratsdatenspeicherung zu stimmen. 

Ich sehe in dem genannten Gesetzesentwurf einen Dammbruch, der, wenn er erst einmal umgesetzt ist und alle Rechtsmittel ausgeschöpft sind, unseren Rechtsstaat und die freiheitliche Gesellschaft, in der ich sozialisiert wurde unumkehrbar verändern wird. Ich bin überzeugt, dass wir gegenwärtig an einem historischen Wendepunkt stehen, an dem unsere Entscheidungen im Bezug auf die digitale Durchdringung des Alltags sehr weitreichende Folgen haben. 

Ich wende mich mit diesem Appell an Sie als Mitglied der SPD-Fraktion, in der Hoffnung, Gehör zu finden. Ich tue dies in dem Bewusstsein, dass Ihre Partei sich in der Geschichte Deutschlands mindestens einmal als Einzige Fraktion im Parlament gegen eine unumkehrbare Abkehr von der Freiheit gestellt hat.

Mit freundlichen Grüßen