Sonntag, 20. Juli 2014

Vorsicht Retrodesign II.

Ehrlich:
Nur das Foto sieht gut aus.
Es ist Sonntag. Ich finde, dass das den Beginn mit einem Bibelzitat rechtfertigt. Aus aktuellem Anlass mit diesem aus Epherser 6:
Ehre Vater und Mutter, das ist das erste Gebot, das Verheißung hat: auf daß dir's wohl gehe und du lange lebest auf Erden. Und ihr Väter, reizet eure Kinder nicht zum Zorn, sondern zieht sie auf in der Vermahnung zum HERRN.
Cool - oder? Naja. Ich will mal die Kirche im Dorf lassen. Ich beschränke mich auf den zweiten Teil - den mit den Vätern. Den ersten kennen wir ja zur Genüge. Die zweite Hälfte wird aber ganz gerne unter den Tisch fallen gelassen. Oder? Ich meine, die Wirkung der ganzen Geschichte mit den Füßen unter dem Tisch des Vaters und so wäre doch sofort verpufft, wenn er nachschieben würde "Und solange du deine Füße unter meinem Tisch hast, will ich dich auch nicht ärgern." Denn dann wäre ja sozusagen eine Beziehung auf Augenhöhe erreicht: Du respektierst mich und ich respektiere dich und wir achten einander und alles ist schick. Tolle Idee, oder? Nur irgendwie funktioniert die nicht richtig, weil fast immer eine Seite patzt. Ich meine jetzt keine bestimmte. 

Es mag ja eine natürliche Hierarchie in der Beziehung zwischen Eltern und Kindern geben, die durchaus sinnvoll ist und der Brut in ihren ersten Jahren einen enormen Überlebensvorteil sichert. Es ist die Rolle der Eltern, ihre körperliche und kognitive Überlegenheit dazu einzusetzen, wichtigen von unwichtigen Anliegen zu unterscheiden, prinzipielle Grenzen zu ziehen, diese zu überwachen und nach und nach zu erweitern bis die lieben Kleinen die Konsequenzen ihrer Handlungen zumindest einigermaßen überblicken können und zu entsprechender Impulskontrolle fähig sind. Diese Überlegenheit ist anfangs da, legitim und wichtig. Später allerdings - so nach etwa 40 Jahren - sollte sich das irgendwo relativiert haben. Die meisten Kinder sind dann nämlich erwachsen. Dazu gehört ein großer Erfahrungsschatz, in vielen Fällen eine eigene Familie, ein eigener Haushalt und sogar so etwas wie ein eigener Geschmack. Der durchaus auch Qualität erkennt, beurteilen und schätzen kann. 

So, VÄTER. Jetzt seid ihr nämlich fällig. Und zwar sowas von. Und ihr MÜTTER, ONKEL, TANTEN, PATENONKEL, PATENTANTEN und überhaupt IHR ALLE, die ihr immer noch meint, uns überlegen zu sein und glaubt, uns mit eurem stinkigen, ramschigen Kellerschrott eine riesige Freude machen zu können - lasst euch gesagt sein: nur, weil wir immer noch popelige 30 Jahre jünger sind als ihr, sind wir keinesfalls ahnungslos. Und schon gar nicht in den Dingen, die uns gefallen. Wenn wir also heute Vorlieben pflegen, die euch vor Jahrzehnten auch schon umgetrieben haben, kramt bitte nicht in euren Kellern und spendiert uns großzügig die Reste von damals. Denn die meisten Sachen werden durch die Zeit nicht besser, sondern nur alt und muffig. Das gilt übrigens auch für Spirituosen. Ein alter billiger Whiskey wird durch 30 Jahre im Keller eben nur 30 Jahre älter. Dasselbe gilt für Pfeifentabake, die zusätzlich noch schimmeln. In dieselbe Reihe gehören Enzyklopädien von 1956, Marmeladen aus den 1980ern oder Oma Sonntags Geschirr. Ihr wisst Bescheid...

Also, ihr Altvorderen, lasst uns einen Deal machen: Wir ehren euch und ihr versucht im Gegenzug, euren Keller auf herkömmlichem Weg zu entrümpeln. Solltet ihr dort etwas von echtem Wert finden, verkauft es, macht eine großartige Reise und schickt uns wunderschöne Urlaubspostkarten. Die legen wir dann in unserem Erinnerunsschatz ab und freuen uns, dass ihr zu leben versteht.

Mittwoch, 16. Juli 2014

Neulich im Beethoven

Es gibt Situationen in Kneipen, da ist man - trotz der gebotenen Diskretion - schier gezwungen, die Unterhaltung wildfremder Leute Wort für Wort mit anzuhören. Ob man will oder nicht. Ob der Mundart ist das Verständnis in manchen Regionen gnädigerweise schwierig. Ich denke da unter anderem an Sachsen. In anderen Regionen dagegen, fällt die schützende Sprachbarriere weg und man ist den Veräußerungen seiner Mitmenschen schutzlos ausgeliefert. Zum Beispiel im Rheinland, wo die Stimmen tendenziell temperamentvoller sind, als anderswo. Oder durchdringender. Vielleicht ist der Rededruck auch höher und dadurch der Redeschwall lauter. Vielleicht liegt es einfach nur am geringen Abstand zwischen den Tischen. Jedenfalls ist es mir hier selten gelungen, eine Kneipe aufzusuchen und nicht im Detail mitzubekommen, was die Tischnachbarn gerade umtreibt. Ich habe mich schon oft gefragt, ob man die Gespräche nicht hier und da mit einem Rat oder einer neutralen Einschätzung bereichern könnte. Oder gar zu dröge Unterhaltungen mal mit einer persönlichen Anekdote beleben sollte. In dem einen oder anderen Fall wäre es sogar sinnvoll gewesen, sich direkt mit an den anderen Tisch zu setzen, weil die eigenen Gespräche in üblicher Zimmerlautstärke sowieso niedergebrüllt wurden.

Gestern allerdings ist mir tatsächlich ein Stück Literatur begegnet. Für Woody Allen wäre es zu derb und für Bukowski zu bürgerlich. Ein Paar sitzt sich in der hintersten Ecke der Wirtschaft gegenüber. Sie, blond mit Dutt, weißem Polohemd und dezent geschminkt, hat sich Gemüsequiche mit Salat und asiatisch anmutende Spieße bestellt. Er, aschblond mit schwarzrahmiger Statementbrille von Fielmann und angedeuteter Hipsterattitüde, vielleicht Bratkartoffeln mit Spiegelei. Man sieht den beiden ihre Missstimmung an. Sie schweigt über lange Strecken und er haut eine idiotische Phrase über Männer und Frauen nach der anderen raus. Mein erster Tipp: "Hmmm. Man sollte eben doch nicht über Internetplattformen daten, da kommt nur Mist bei raus." Ich wollte gerade dem Typen mitleidig auf die Schulter klopfen und ihm sagen, dass er an dieser Stelle nicht so gut ankommt und gerade sowohl seine eigene Zeit als auch die seiner offensichtlich angepissten Begleitung vertut, da schneide ich mit, dass die die Anbahnungsphase schon sehr lange überwunden haben und offenbar gerade eine emotionale Lehmkule ansteuern, um sich dort nach allen Regeln der Kunst mit Dreck zu bewerfen. Dabei übernimmt er - ganz männlich - die Führungsrolle und sagt ihr in einer Tour, warum genau sie ihm sein ganzes Leben versaut und ihre Mutter genau so ist wie sie. Sie hört sich das alles schweigend an. 

Ich warte die ganze Zeit auf ein Kamera-Team, das den beiden zuruft, sie hätten die Szene für die Daily jetzt im Kasten, danke den unfreiwilligen Statisten und man mache jetzt Feierabend. Die kommen aber nicht. Statt dessen geht es rund 90 Minuten hin und her. Die Perlen musste ich einfach festhalten.

Hier die stark gekürzte Wiedergabe des Paargespräches:

Sie: "Es geht einfach nicht an, dass du nach Hause kommst und die ganze Nacht fernsiehst. Ich kann dann nicht schlafen."


Er: "Du nervst voll. Ich habe einen voll stressigen Job. Ich habe den ganzen Tag Probleme. Wenn ich nach Hause komme, will ich mich entspannen."


Sie: "Zu Hause gibt es aber auch Probleme. Du hast zwei Jahre unsere Steuererklärung nicht gemacht."


Er: "Das war der Steuerberater schuld."
 

Sie: "Nein. Das warst du schuld. Du wolltest dich darum kümmern."
 

Er: "Ey - ich habe den ganzen Tag Probleme. Abends will ich meine Ruhe haben. So ist halt das Leben: Der Mann macht tagsüber einen anstrengenden Job, bringt die Kohle nach Hause und will dafür abends Happahappa auf dem Tisch haben. Wenn du mit mir über unsere Probleme sprechen willst, ruf mich auf der Arbeit an. Oder sag mir 'ne Zeit und ich mache einen Außentermin draus."
 

Ich: ...?! 

Sie: "Du bist voll behindert."
 

Er: "Bevor ich dich kennengelernt habe, war ich ein wirklich glücklicher Mensch. Ich war zufrieden. Bevor ich dich kannte, war ich glücklich."
 

Sie: "Ach - halt's Maul! Bevor wir uns kennengelernt haben, warst du jeden Tag besoffen."
 

Er: "Ich kann ja wieder anfangen zu saufen."
 

Sie: "Kellner! Ich würde gerne zahlen."

Mittwoch, 28. Mai 2014

Pop pop poppeldipoppeldipositiv positiv, nicht negativ

oder 
Über Engel und Dämonen

oder
Für Frau Müller!

 
Oh Mann! Jaaaaa! Lass' die Sonne rein! S-S-S-Sonne rein! Sonne rein!

 Könnt Ihr euch eigentlich auch noch an diesen unglaublich positiven Song der Fantastischen Vier erinnern? Ja? War das der Soundtrack zu eurem Abi, zum ersten Semester, zur Zivi-Zeit? Cool! Dann gehört ihr zu meiner Generation, also den Älteren. Diejenigen, die zumindest damals in der Lage waren, dem Highspeed-Text akkustisch UND semantisch zu folgen, konnten daraus unglaublich wertvolle Impulse für das eigene Leben bekommen. Doch - echt jetzt: Geld nicht überzubewerten, die Meinung anderer Leute eher unterzubewerten und sich selbst grundsätzlich zu mögen. So wie man ist. Und was Cooles draus zu machen. Auch wenn man diese Botschaften nicht jedes Mal wirklich mitgeschnitten hat, ist eins immer geblieben: Gute Laune. Wer sich nicht mehr so richtig erinnern kann, sollte sich das Lied nochmal anhören. Und dazu, was Smudo & Co. mit Engeln und Dämonen zu schaffen haben, komme ich später.

Wie ich auf das Lied gekommen bin? Ganz einfach: Bei dem aktuellen Wetter sind positive Gedanken GANZGANZ wichtig, um nicht depressiv zu werden. Aber nicht nur bei diesem Wetter. Sondern im Leben allgemein. Denn da kann es von Zeit zu Zeit auch ganz schön pissen. Braucht gar keinen akuten Anlass. Eigentlich reicht es ja schon, sich sein Leben anzugucken und es mit den Träumen von einst zu vergleichen. Also, ich weiß nicht, wie das bei euch so ist, aber für mich birgt das immer größtes Unwetterpotenzial. Der Soll-Ist-Vergleich zwischen dem Plan und gelebter Wirklichkeit sieht immer Scheiße aus bietet da und dort Optimierungspotenzial.

Zum Beispiel bin ich nicht König geworden. Das war eine Zeit lang wirklich mein absoluter Traumberuf. Immer mit schicken Klamotten in Kameras lächeln, unglaublich viele Leute an interessanten Orten treffen und hübsch wohnen, ohne sich darum kümmern zu müssen. Und wenn mal was nicht klappt, jemand anderem die Schuld dafür geben. Toll! Leider passte ich nicht in die Erbfolge. Ein Sachverhalt, an dem man nichts ändern kann und an dem keiner Schuld hat. Schade. Aber gut. Denn damit konnte ich die Sache auch in Würde begraben.

Ganz anders ist das mit den Dingen, die einem wirklich am Herzen liegen und aus denen bis heute nichts geworden ist. Ideen, die man mal hatte. Wünsche, etwas Außergewöhnliches zu tun. Ich meine jetzt nicht Ideen wie "Oh, heute gehe ich mal in Flipflops arbeiten" oder "Ich wünschte, es wäre Freitag". Die sind auch nett, aber bedeutungslos. Ich meine die Ideen und Wünsche, die das Potenzial haben, ein Leben zu verändern, ihm eine ganz andere Richtung zu geben. 

Stark, oder?

Ich bin mir ziemlich sicher, dass jeder mal eine Idee, einen Traum oder ein Projekt hatte, von dem er begeistert war, das ihn gedanklich Tag und Nacht beschäftigt hat und das bestimmt auch gut war. Jedenfalls Irgendwie. Erinnert ihr euch an eures? Ja? Na bitte! Denkt noch mal ganz fest daran - an dieses unglaublich beflügelnde Gefühl, etwas wirklich Aufregendes zu tun, bei dem das Herz schneller schlägt und man fühlt, dass das Leben gut ist: die Welt zu umrunden, zum Südpol zu reisen und dort den Sommer zu verbringen. Mit einem Kanu den Amazonas entlang zu paddeln, ohne von Tieren gefressen zu werden. Einen Film zu drehen, ein eigenes Modelabel zu gründen, einen Frisör-Salon zu eröffnen und ihm einen total kreativen Namen zu verpassen, ins Guinnes-Buch der Rekorde zu kommen. Eine Familie mit zehn Kindern zu gründen oder mit dem Marmeladenrezept der Großmutter ein Vermögen zu machen. 

Leider hat man aber nichts davon gemacht. Also ich jedenfalls nicht.

Warum eigentlich nicht? Weil es wichtigere Dinge gab: Die Schule/Ausbildung/Uni zu Ende machen, zum Beispiel. Dann musste man erst mal im Beruf Fuß fassen und sich beweisen. Der ganze Kram halt. Das andere musste warten.

Oder?

Klar - es gibt diese beschissenen Sachzwänge. Das ist richtig. Man muss essen, wohnen, schlafen, für die Brut sorgen. Das alles kostet Nerven und Geld. Letzeres muss sollte man verdienen. Also arbeiten. Aber dennoch bleibt immer ein Entscheidungsspielraum, in dem man sich aktiv und tatsächlich für oder gegen einen Traum entscheiden kann. In. Jedem. Moment. Des. Lebens. Ich habe das bisher nicht gemacht. Nicht, weil ich keine guten Ideen hatte. Davon hatte ich schon Millionen. Fragt dazu mal Herrn Zumbrechenflexibel. Der wird euch vor eine virtuelle Regalwand mit meinen "total spannenden Projekten" stellen und gähnend sagen, ihr könntet euch eins aussuchen und mitnehmen, es seien ja genug da. Keins davon habe ich jemals auch nur angefangen. Weil keine Zeit, weil zu groß, weil dann auch schon wieder out. Nein. Nicht wirklich. Eigentlich weil ich Schiss hatte.
 
Warum? Und jetzt kommt die Sache mit den Engeln und Dämonen. Spannend, oder? Nennen wir sie vereinfachend "in der Regel unsichtbare Schicksalsmächte", die das Leben der Menschen in eine gute oder schlechte Bahn lenken, segnen oder verfluchen, beistehen oder töten. Ob es die jetzt tatsächlich gibt, sei dahingestellt. Die beschriebene Wirkung aber ist real. Und zwar durch das gesprochene Wort anderer Menschen. Das ist so ungemein kraftvoll, dass es mit einem Satz Projekte töten kann. Das muss noch nicht einmal so eine klare Ansage sein wie "Nee - lass das mal lieber. Du kannst eh' nichts und das Projekt ist voll idiotisch. Werde besser Buchhalter". Es reicht schon, ganz vernünftig auf die bekannten Risiken hinzuweisen. "Einkommenseinbußen", "Rentenlücke", "krummer Lebenslauf" sind da vollkommen ausreichend. Oder Hinweise auf die schlechten Erfolgsaussichten, bereits bestehende ähnliche Projekte, die große Konkurrenz, die grausamen Spielregeln im "Haifischbecken", in dem nur die Härtesten überleben, sind auch gut oder die ganz offen formulierte Frage, ob man sich das denn auch wirklich gründlich überlegt habe und sich das zutraue. Soviel zum Fluch.

Jetzt mal zum Segen - und das spannt den Bogen zurück zu den Fanta 4: Es ist genauso so leicht, mit ehrlich gemeinten, guten Worten, Dinge ins Leben zu heben. Indem man das Gute sieht und anspricht. Bei anderen und sich selbst. Oder mal einfach ein Kompliment macht, wenn einem jemand begegnet, der es verdient hat - für ein außergewöhnliches Outfit, schönes Auto, schräges Hobby, cooles Fahrrad, lange Haare, witzige Wortwahl, gute Arbeit, freundliche Ansprache, Mitgefühl zur rechten Zeit, Zeit zur Unzeit, eine Blume am Lenkrad in einer sonst öden Umgebung. Das tut so gut - beiden - und kostet gar nichts.

So. Und jetzt: Das Lied.

Lass' die Sonne rein

Samstag, 17. Mai 2014

Kääääääährwoch...

Es gibt fundamentale Einsichten, die bleiben dem Großstädter leider komplett verschlossen. Also zumindest denen außerhalb Baden-Württembergs. Für die wirklich tiefgreifenden Erkenntnisse des Menschen und seiner Psychologie muss man einfach in die Provinz, weil es nur dort die notwendigen Rahmenbedingungen gibt. Soziale Kontrolle zum Beispiel, die allein dadurch entsteht, dass man sich kennt und sich obendrein noch ständig begegnet. Schon das wäre in Städten wie Hamburg oder Berlin vollkommen undenkbar. Hier dagegen ist das normal. Man achtet eben aufeinander und nimmt regen Anteil am Leben der Anderen, kümmert sich. Das schließt Rücksichtnahme auf die Empfindungen seiner Mitmenschen natürlich ein. Zum Beispiel, indem man seine FREIZEIT dafür opfert, um das Trottoir fein sauber zu halten. Verstehe ich im Herbst, wenn hinterfotziges, nasses Laub die Gebrechlichen niedermäht oder Schnee und Eis dasselbe mit allen anderen tut. Verstehe ich nicht zu allen anderen Zeiten. Seien wir doch mal ganz ehrlich und pragmatisch: Was kümmert mich der Gehweg vor meinem Haus? Den sehe ich etwa zweimal am Tag und nehme ihn dann noch nicht mal richtig wahr. Außerdem machen die Hunde da Pippi. "Das sieht aber doch viel einladender aus, wenn es schon draußen so schön sauber ist - wie eine Art Visitenkarte", könnte man einwenden. Wäre das bei uns so, würden Besucher, die sich darauf verlassen haben, spätestens im Entree ihr blaues Wunder erleben und schleunigst die Flucht ergreifen. Gehweg fegen - soweit kommt's noch! Da kann ich ja gleich den Keller wischen und die Lichtschächte putzen. Die Schwaben haben da einen Begriff für, der mich Zeit meines Lebens gleichzeitig in ungläubiges Staunen versetzt und massive Fluchtreflexe ausgelöst hat - ihr wisst schon, welchen ich meine, oder? Klar - die Käährwoch. Kehrwoche. Eine Tradition, die selbst ignorante Zugezogene turnusmäßig dazu zwingt, sich in Jogginghose und Latschen zu schmeißen, um in großem Stil außer Haus den Besen zu schwingen. Wer kneift, bekommt Besuch. Und zwar einen, der die Regeln kennt und sie dem Unwissenden gerne in aller Eindringlichkeit nochmals persönlich erklärt. Diese in breiten Teilen der Bevölkerung akzeptierte Ordnungsgängelung war für mich immer ein maßgeblicher Grund, niemals einen Fuß in diese Region zu setzen. Zumindest nicht als Bewohner. "Das ist jetzt aber kleinlich, total ignorant - was spricht denn dagegen, sich mal fremden Kulturen und Gebräuchen zu öffnen?" "Nichts. Es spricht aber auch nichts dafür. Also nicht in diesem Fall und nicht für mich." Um es kurz zu machen: Die Rituale der Kehrwoche waren mir immer ein großes Mysterium. Was, um alles in der Welt, treibt Leute dazu, sich zum Zeitvertreib gegenseitig mit dem Besen um den Block zu jagen, denselben zu säubern und Pflanzen aus den Ritzen der Gehwegplatten zu popeln, die allein schon für das ambitionierte Vorhaben, die exakten Formsteine zu durchdringen, einen Orden verdient hätten. Wäre in Berlin vollkommen undenkbar. Wer sich in Kreuzberg auf dem Trottoir anschickt, die Pflanzen aus den Fugen zu zerren, bekommt wahrscheinlich sofort Ärger mit dem Gartenamt oder wird von irgendwelchen Frutariern gebläut, die Gewalt gegen Pflanzen verteufeln. Fegen ist da wegen der Hundehaufen sowieso undenkbar, es sei denn, man will dem Bürgersteig mal einen neuen Anstrich verpassen. Heute hat sich mein Blick auf die Dinge geändert. Weil ich sie verstanden habe. Ich bin sozusagen in sie eingetaucht und habe sie bis ins Letzte durchdrungen. Ich habe nämlich heute selbst unser Trottoir gefegt, die Pflanzen entfernt und alles schön sauber gemacht. Aber WARUM??? Ganz einfach: Weil die Nachbarn die Straße hoch das auch gemacht haben. Heute Vormittag. Bis gestern sah es überall gleich aus: ein bisschen zerbröseltes Laub auf etwa 1,5 Metern Breite, das sich gerne an den Füßen gigantischer Löwenzahnpflanzen sammelt und dort in Verbindung mit ein bisschen Hundepippi vor sich hin gammelt. Dann haben die Straßeaufwärts'ns das Zeug penibel weg geputzt. Ergebnis: Bei uns sah es scheiße aus. Naja. Und bei den Nachbarn Straße abwärts. Da hat es mich gepackt: Nachdem wir schon den ganzen Herbst, Winter und das halbe Frühjahr die rote Müll-Laterne hatten, wollte ich sie jetzt an unsere Nachbarn weiterreichen. Und habe es schön gemacht. Das ist der ganze Trick: Ein Streber fängt an und alle anderen ziehen nach, um nicht als Saubande dazustehen. Und die, die es diesmal nicht geschnallt haben, sind nächstes Mal die Ersten. Ganz sicher. Außerdem hat das Fegen etwas Meditatives, man kommt so in den Flow. Und denkt nach. Und erkennt Dinge, die anderen verborgen bleiben. Fragt mal Beppo den Straßenfeger.

Donnerstag, 13. März 2014

102.800 verlorene Möglichkeiten

Verlorene Möglichkeiten 2013
Heute hat mich eine Zahl des statistischen Bundesamtes mal brutal von hinten erwischt. Ich war eh schlecht drauf, deswegen war der Impact besonders tief. Passt. Wie auch immer. 

Wer jetzt noch gut drauf ist, sollte mal besser weglesen. 

Denn die Zahl des Tages heißt 
102.800 Abtreibungen in Deutschland im Jahr 2013. 

Man muss sich ausmalen was das konkret bedeutet: Zum Beispiel, dass fast ganz Moers im vergangenen Jahr ausgelöscht worden ist. Ich meine - nicht, dass ich irgendetwas gegen Moers hätte. Soll ja zuweilen ganz gute Jazz Musik da geben. Ich hätte auch Hildesheim, Cottbus oder Kaiserslautern sagen können. Das sind alles "Großstädte" mit etwas mehr als 100.000 Einwohnern. Ich erlaube mir kein Urteil darüber, ob diese Städte ein Existenzrecht haben oder nicht - ist bestimmt auch irgendwie total schön da - aber eine von denen musste letztes Jahr evakuiert werden. Also entleert. Dauerhaft. Naja - die Leute da sollen sich mal nicht beschweren, denn die hatten ja sicher schon ein paar tolle Jahre - so mit Frühling, Sonne, Flipflops, Eis und Ferien. 

Oder eine andere Rechnung: "Unsere" Schule hat 240 Schüler. Mit den in der Potenz verbliebenen Kindern könnte man die 428 mal füllen. Die Füllung von 428 Grundschulen wurde abgesaugt. Oder rund 2.284 mal "unser" Kindergarten. Ist doch prima - die knapp 23.000 Erzieher und 10.700 Grundschullehrer können dann in der Altenpflege arbeiten. Da werden sie sowieso dringend gebraucht und das Persönlichkeitsprofil der zu Betreuenden ist ähnlich...

Ich werde unendlich traurig, wenn ich an all die kleinen Menschen denke, die nicht einmal anfangen durften und schon lange vor dem PEKiP aussortiert worden sind und zwar nicht, weil der Kurs voll war, sondern weil sie irgendwie gerade nicht is Konzept gepasst haben. "War gerade irgendwie ungünstig/eine Katastrophe/nicht mein Typ". Weiß man ja vorher nie. Vielleicht wäre es doch "günstig" oder ein Glücksfall geworden? Irgendwie?? Wer kann schon sagen, wer das mal geworden wäre - ein cooler Typ mit 'ner E-Gitarre, eine Künstlerin, eine Schlagzeugerin, Tänzerinnen, Pferdenarren, Tierliebhaber, WissenschaftlerInnen, vielleicht Fußballer, Lehrer oder vollkommen talentfreie Menschen, die sich am Feierabend gerne mal aufs Sofa setzen und Sportschau gucken. Vorher wären das Kinder gewesen, die sich für Cars, Rapunzel oder Elfen-Comics begeistern. Die Glitzer lieben, voll auf Dinos, Lutscher oder Holzeisenbahnen abfahren. Die einem die Welt auf so unnachahmliche Weise erklären, dass man einfach daran glauben muss. Aber trotzdem froh ist, wenn man nach 20 Uhr wieder die Deutungshoheit besitzt. Die so unglaublich zornig und glücklich sein können, dass man selbst immer noch eine gehörige Portion davon abbekommt. Die unendlich kostbar sind, allein, weil sie da sind.

Es ist soviel perfektes Leben, das da so endgültig verloren geht und was keine Lobby hat.

Nur vier Prozent der Abtreibungen waren medizinisch indiziert - die Schwangerschaften von Vergewaltigern sind da mit hineingerechnet. Knapp drei Viertel der Frauen (74 Prozent) waren zwischen 18 und 34 Jahre alt. 15 Prozent zwischen 35 und 39 Jahre, 8 Prozent über vierzig. 

Ach so - und hier der Link.

Donnerstag, 13. Februar 2014

"Letzte Ziele" - mit dem Navi zur Beerdigung

up, up and away!
Dreimal die Hacken zusammenschlagen und was dann?
Kennt ihr diese Tage, die so vollgestopft sind mit dringenden Erledigungen und akuten Handlungsforderungen des prallen Lebens - Deadlines, Korrespondenz mit dem Finanzamt, Rechnungen, verbindliche Abholzeiten im Kindergarten und im Hort, beidseitige Mittelohrentzündung bei Nr.2, leerer Kühlschrank, voller Wäschepuff, leerer Tank, volle Spülmaschine, die nächste Mitteilung auf Facebook, um nur die absolut wichtigsten zu nennen. Da könnte man auf die Idee kommen, das ginge einfach immer so weiter. Wenn man Zeit hätte, auf Ideen zu kommen. Die hat man aber nicht. Stattdessen stellt man am Abend immer vollkommen überrascht fest, dass der Tag schon wieder vorbei ist, obwohl man doch gerade erst aufgestanden ist. Oberdrein ist auch schon wieder Freitag, dabei hat man doch eben erst das Sonntagsfrühstück abgeräumt. Dazwischen - was war nochmal dazwischen? Vergessen. War auch nicht wichtig. Der Kaldender behauptet, es sei schon Mitte Februar. Dabei war doch letzte Woche erst Weihnachten. WAS? Auch schon sieben Wochen her? Krass! Und bald sechs Monate im Rheinland? Oh Gott! Dann ziehen wir ja in zweieinhalb Jahren schon wieder um! Höchste Zeit, schonmal auszumisten.

Das Leben ist kurz und unruhig. Es reißt einen einfach mit sich und man muss verdammt aufpassen, die ganzen Felsen zu umpaddeln und in den Untiefen nicht abzusaufen. Voll und ganz damit beschäftigt, den Kopf oben zu halten, oder? Mir geht das so. Stunde für Stunde, Tag für Tag. Ich jage immer von einem akuten Aktionsfeld zum nächsten. Irgendwas ist ja immer.

Und dann gibt es diese Tage, in denen der Tod einbricht. Der sorgt ein für alle Mal für Ruhe. Im Kopf, im Terminkalender und verrückt die Prioritäten. Gestern war so ein Tag. Es war der erste Todestag meines lieben Schwagers, der letztes Jahr vollkommen unerwartet und auf tragische Weise gestorben ist. Das erste Jahr seiner Ewigkeit ging für uns unfassbar schnell rum. Und der Verlust ist noch immer so schrecklich schmerzhaft. Aber als ob das nicht genügte, findet an diesem Tag auch noch die Beerdigung eines Kommilitonen statt. Seine Partnerin ist eine Freundin aus Kindertagen. Wir kennen uns seit 1981, hatten uns 12 Jahre nicht gesehen und dann gestern wieder. 

Was war gerade nochmal so wichtig? Warte mal! Ich hab's gleich... Hmmm. Mist! Komme nicht mehr drauf. Bei soviel Vergänglichkeit von Zeit und Leben relativiert sich doch einiges. Wer sagt eigentlich, dass alles immer so weitergeht? Was, wenn nicht? Wo sind die Gewissheiten? Argh! Sie sind WEG!

In diesem seltsamen Zustand steige ich wieder ins Auto, stelle das Navi an, damit wenigstens einer von uns weiß, wo es lang geht. Ich schaue ins Menü:

"Adresse eingeben"

ok

"Letzte Ziele?"

Wie jetzt? Hatte ich bei tomtom etwa die Eschatologie-Version erwischt? "Final Destination - Letzte Dinge sicher finden!" Ist mir noch gar nicht aufgefallen. Naja - wo wir schon dabei sind: Was sind eigentlich MEINE letzten Ziele? Die Frage lässt sich nur vom Ende aus beantworten. Am Ende will ich so wenig falsche Entscheidungen wie möglich getroffen haben. Ich will mich den richtigen Menschen zugewendet haben. Und ich will keine Zeit für sinnlose Sachen vergeudet haben (alles klar, MORGEN lösche ich meinen Facebookaccount. VERSPROCHEN). 

Dann wäre das also geklärt. Navis können einem aber manchmal auch Fragen stellen...