Dienstag, 20. August 2013

Countdown: Sechs

Klar. Wenn man in einer Stadt lebt begegnet man Menschen. DAUERND. Diese Begegnungen reihen sich aneinander, überlagern sich, überstrahlen alles andere oder gehen einfach unter. Manche sind interessant, andere belanglos einige bedeutsam. Ein paar gehen in die Tiefe, sind verbindlich, andere bleiben an der Oberfläche und sind bedeutungslos. Dazu gesellen sich geschäftliche, absurde, banale und - jaaajaa - leider auch peinliche Begegnungen. Aber in ganz seltenen Fällen gibt es auch die wunderlichen Begegnungen. Die finde ich ja am besten.

Von der außergewöhnlichsten Begegnung meines Lebens habe ich ja schon im Zusammenhang mit Else Methner geschrieben. Die ist nicht zu toppen - zugegeben. Schade eigentlich, dass mein Leben in dieser Hinsicht schon SO früh vollendet ist... Hmm. Naja. Aber trotzdem gibt es noch andere unglaublich interessante Erscheinungen, mit denen ein Gespräch sicher aufregend gewesen wäre. Auf die eine oder andere Weise. Vielleicht auch aufreibend.

Es gibt da zum Beispiel diesen alten Mann, den ich jetzt seit knapp drei Jahren fast täglich auf unserer Straße sehe. Er steht da bei jedem Wetter, im Sommer und im Winter. Immer innerhalb eines etwa hundert Meter langen Straßenabschnittes. Immer. Ganz alleine. Trotzdem spricht er von Zeit zu Zeit oder bewegt zumindest die Lippen (ohne Head set - ich schwör'!). Manchmal wechselt er die Seite. Dazu muss man sagen, dass wir nicht in Mitte wohnen, wo sich irgendwie dauernd was Bemerkenswertes am Straßenrand abspielt. Gar nicht. Es handelt sich hier um eine einspurige Durchgangsstraße aus Brandenburg nach Reinickendorf und alle 20 Minuten kommt ein Bus. Hier steht er also wie ein Wächter in geheimnisvoller Mission.  

An der etwas schiefen, leicht gebogenen Haltung, den fahrigen Bewegungen der Arme und dem entrückten Gesichtsausdruck erkennt man schnell, dass sein Blick in die Welt sicher zu vollkommen anderen Erkenntnissen führt, als der meinige, der meiner Freunde und - ich weiß, dass das jetzt eine ungeheuer anmaßende Annahme ist, ich trau mich aber trotzdem - der der meisten anderen Menschen. Früher hätte man einfach gesagt, dass er leicht irre ist und alle hätten gewusst, wovon die Rede ist. Das darf man heute aber nicht mehr, sondern muss rumeiern und Missverständnisse in Kauf nehmen. Ich kenne den politisch korrekten Ausdruck nicht, versuche es aber einfach mal mit "ein anhaltend mental herausgeforderter Mensch". Hört sich bombig an. Oder?! Jawoll. Also weiter.

Dieser Mann steht hier nun in der gesamten Zeit, die wir hier wohnen und bewacht täglich die Straße. Oder uns. Oder wen anders. Oder er wartet beharrlich auf einen bestimmten Bus, der bisher aber noch nicht gekommen ist. Das ist fast poetisch. Möglicherweise saß in einem dieser Busse einmal die Liebe seines Lebens und er hat sie verpasst. Jetzt hofft er seit dreißig Jahren, dass sie noch einmal an ihm vorbei fährt. ... Ach nee. Das ist kitschig. 

Es ist auch denkbar, dass es ihn gar nicht wirklich gibt und er nur eine Emanation meiner überspannten Fantasie ist. Einer neutralen überspannten Fantasie, denn er sieht überhaupt nicht gefährlich, aggressiv sonstwie verkommen oder abstoßend aus. Im Gegenteil: Er trägt immer saubere Kleidung, Körper (soweit sichtbar), Gesicht und Haare sind immer sauber, letztere sogar geschnitten und frisiert. Vermutlich residiert er nachts in der nahegelegenen Diakonie, wo man für ihn sorgt und ihn nach besonders heißen oder kalten Tagen wieder aufpäppelt.

Aber jetzt zurück zu der Begegnung. Die sich in der echten Wirklichkeit - also der dinglichen Realität - natürlich nie ereignet hat. Denn sonst wüsste ich ja, warum er da steht und was seine Mission ist und das ganze Ding wäre vollkommen langweilig. Neinein. Die eigentliche Begegnung beschränkt sich auf die bloße Wahrnehmung dieses Mannes, der wie eine Spukgestalt in ein räumlich fest umrissenes Arreal gebannt ist und diese unbändige Neugier, warum er immer dort ist. Was er denkt, worauf er wartet und was er sieht. Aber mal ehrlich: Ich traue mich nicht. Wer weiß, was er mir dann sagt? Wie er reagiert?

Was würdet ihr machen? Interessiert mich ehrlich!

Vielleicht frage ich ihn wirklich noch. Wahrscheinlich wird er dann grinsen und sagen "Mensch, bin ich froh, dass Sie mich nochmal ansprechen. Ich habe mich nämlich schon seit Jahren gefragt, warum Sie jeden Tag dieselbe Strecke fahren und mich dabei immer so komisch angucken. Ich habe schon gedacht, sie wären eine Freigängerin der Diakonie. Naja. Dann hätten wir das ja glücklicherweise geklärt. Guten Umzug."

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